Aufbruch nach Neuland

Wie Studierende der ADK und des Animationsinstituts einem leerstehenden Industrieareal neues Leben einhauchen

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Auf leuchtenden und tönenden Schaukeln durch hohe Hallen schwingen, unter ein riesiges Silo liegen und hineinrufen, mystischen Ritualen beiwohnen, die eine heilige Substanz namens Caro verehren – es war eine besondere Entdeckungsreise, die das Publikum erwartete.

 

Studierende des Animationsinstituts und der Akademie für Darstellende Kunst (ADK) begaben sich gemeinsam auf die Suche nach dem künstlerischen Potenzial eines alten Industriegeländes. Im Rahmen des transdisziplinären Projekts NOMADISCHE RECHERCHE entwickelten sie Performances und interaktive Installationen, die sie auf dem Neuland-Festival im September 2021 präsentierten. Mit dem Festival wurde das sogenannte Franck-Areal erstmals für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

 

In der alten Franck-Fabrik hinter dem Ludwigsburger Bahnhof wurde über 150 Jahre lang Ersatzkaffee hergestellt. Der große Komplex prägte das Stadtbild und der Geruch des Instantgetränks, das aus einer Mischung aus Zichorien und Getreide besteht, lag immerzu über der Stadt. Für viele Einheimische wurde dadurch die Fabrik und das dort hergestellte Produkt, das in Deutschland unter dem Markennamen „Caro“ bekannt ist und sich in anderen Ländern „Pero“ nennt, ein Stück Ludwigsburger Identität.

Doch die Nachfrage nach Caro-Kaffee sank. Im Jahr 2018 verlagerte der Nestlé-Konzern, der die Fabrik mittlerweile besaß, die Produktion nach Portugal. Daraufhin erwarb die Stadt Ludwigsburg das Areal, um in den kommenden Jahren Fabrik und Fläche neu zu nutzen.

 

Den Diskussionsprozess zur Frage, was mit dem Gelände künftig geschehen soll, wollte die Stadt anstoßen, indem sie zusammen mit der Wüstenrot Stiftung ein Festival plante. Auf diesem sollte die Bevölkerung einen ersten Blick auf das lange verschlossene Areal werfen können. Das sogenannte „Neuland-Festival“ organisierten beide Institutionen gemeinsam mit Kultureinrichtungen sowie Kunstschulen und -hochschulen, die in Ludwigsburg beheimatet sind.

 

„Als die Stadt auf uns zu kam, war uns gleich klar, dass dieses Projekt prädestiniert für unsere NOMADISCHE RECHERCHE ist“, erinnert sich Professor Ludger Engels, der Studiengangsleiter im Fach Regie der ADK. Die NOMADISCHE RECHERCHE ist Bestandteil des Curriculums der Hochschule in den Fächern Regie, Dramaturgie und Schauspiel. Dabei sollen die Studierenden Einblicke in fachfremde künstlerische Bereiche erhalten, in dem sie mit Studierenden anderer Hochschulen kooperieren.

 

Schon in den vergangenen Jahren entstanden die Projekte in Zusammenarbeit mit dem Bereich Interaktive Medien des Animationsinstituts. „Beide Bereiche ergänzen sich ideal, gerade hinsichtlich der künstlerischen Auseinandersetzung beim Bespielen von Räumen“, erklärt der Professor, der auch der Projektleiter der NOMADISCHEN RECHERCHE auf dem Areal war.

 

Anna Brinkschulte, die leitende Dozierende der Studienvertiefung Interaktive Medien am Animationsinstitut, war von der Idee begeistert, im Rahmen dieses Formats gemeinsam installative und performative Arbeiten für die leerstehenden Räume des Franck-Areals zu entwickeln: „Das war nicht nur eine einmalige Chance, die Arbeit beider Akademien der Öffentlichkeit zu präsentieren. In diesem besonderen Umfeld konnten durch die verschiedenen Arbeitsweisen der Studierenden auch einzigartige transmediale Projekte entstehen, die eine Zukunftsperspektive für die künftige Nutzung des Areals aufzeigen.“

 

Für die inhaltliche Ausgestaltung der Arbeiten wurde den Studierenden laut der Dozentin viel Freiraum gelassen. Nur die genauen Räumlichkeiten und bestimmte Sicherheitsvorgaben von der Stadt standen dafür fest. Innerhalb eines Workshop-Zeitraums von Juni bis Juli sollten sich die Studierenden kennenlernen, gemeinsam recherchieren und schließlich in gemischten Teams konkrete Ideen für das Festival in die Tat umsetzen. „Die Studierenden fingen bei null an“, erzählt Professor Ludger Engels. „sie informierten sich erst einmal über die Geschichte des Areals und überlegten in einem nächsten Schritt, wie sie mit den Räumen umgehen wollten.“

 

Entscheidend für das Konzept wurde so unter anderem die Bedeutung des Caro-Kaffees für die Stadt, aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem letzten Eigentümer Nestlé spielte eine Rolle. Die Grundidee nannte sich „Church of Caro“. Eine eröffnende Performance blickte aus einer post-apokalyptischen Zukunft auf das Areal, in der ahnungslose Menschen auf das unberührte Gelände stoßen und archäologische Erkundungen anstellen. Offenbar, so scheint es ihnen, muss dieses Kaffeesubstitut gesellschaftlich bedeutsam gewesen sein. Hatte etwa in vergangener Zeit ein religiöser Kult damit zu tun?

 

Die SchauspielerInnen inszenierten daher in einer großen Halle auf dem Areal eine Art religiöse Zeremonie, die auf Werbebotschaften der Caro-Marke basierte. Dabei nutzen sie auch die alten Anlagen in performativer Weise. Beispielsweise wurde die riesige Röstanlage zum tönernen Perkussionsinstrument.

 

Darauf begab sich das Publikum in die weiteren Gebäudeteile, wo mehrere Stationen warteten. Hier stießen die Menschen dann auf räumliche Installationen und Performances, die größtenteils mit einem meditativ-rituellen Charakter an die Church of Caro-Idee anschlossen.

 

Unter anderem wurde man hier auf einer Liege in ein Silo geschoben, oder man musste sich in einer Kabine kritischen Fragen zu Nestlé und dem eigenen Konsumverhalten stellen. In einem anderen Raum durchliefen die Menschen den „Path to Caro“, einen spirituellen Pfad mit imaginierten Ritualen der einstigen ArbeiterInnen. Ein weiteres Team schickte Gruppen an Besuchenden anhand eines Exit-Games über das Gelände zu damit zusammenhängenden Einzel-Performances.

Fotos "Faces of Ludwigsburg" & "Schwebepunkte" (Fotos 1&2 von links): © HEXAGRAMcreative David Göz
Fotos "Exit Room: Inferno" (Fotos 3&4 von links): © Steven M. Schultz

Doch es wurden auch simplere, aber dadurch nicht minder geniale Interaktionsmomente zwischen dem Industriekomplex und den Besuchenden geschaffen. Etwa erhielt man am Eingang sogenannte Wackelaugen, mit der Aufforderung diese auf dem Gelände überall dorthin zu kleben, das wie ein Gesicht aussehen könnte. In den Räumen standen etliche Industrie-Überbleibsel wie Maschinen oder Stromkästen, die sich perfekt dafür eigneten. Diese Aktion inspirierte spielerisch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Architektur des Areals.

 

Dazu kamen große, beeindruckende Installationen. Die Dramaturgie-Studierende Sarah Charlotte Becker entwickelte etwa die immersive Audio- und Videoinstallation „Kaffeeklang“. Dafür legte sie ein ehemaliges Zichoriensilo mit Teppichen aus. Die Besuchenden umhüllte gleich beim Betreten des dunklen Raums der im Silo verbliebene Kaffeeduft. Zudem hörten sie darin Klänge, Geräusche und eine Stimme. Die meditative Szenerie untermalte eine Videoarbeit des Interaktive Medien-Studierenden Kenneth Erhabor, die in das Silo projiziert wurde.

 

„Ich bin dabei vor allem von dem Raum ausgegangen, der schon viel sinnliche Eindrücke von sich aus vermittelt“, erklärt Sarah. „Die darin erlebbare Erfahrung habe ich mir als begleitete Meditation gedacht, einem ganz bei sich sein, eine Art Erlösungsritual der Church of Caro sozusagen.“

 

Dauerhaft während der gesamten Festivalzeit war die Arbeit „Schwebepunkte“ zu sehen. Die drei Interaktive Medien-Studierenden Malte Hartleb, Clara Deitmar und Jannik Jochim ließen im ehemaligen Rohstofflager der Fabrik sieben interaktive Schaukeln von der Decke hängen. Indem sie geschaukelt wurden, entstand ein Spiel aus Licht und Klang. Der große hallende Raum wurde so eindrücklich in Szene gesetzt.

 

„Als wir das erste Mal über das Gelände gingen, lag der Raum noch hinter einer schweren Stahltür“, erinnert sich Clara. „Als wir sie öffneten, fielen uns gleich die Bewegungsmelder an der Wand auf.“ Die seien der Ausgangspunkt für die Installation gewesen. „In jeder Schaukel sind eine Powerbar und ein Handy verbaut, das ist der Trick“, erklärt die Studierende. Eine eigens dafür programmierte App koordiniere das Zusammenspiel der Schaukeln und ihrer Bewegung im Raum mit dem projizierten Lichtelementen und dem abgespielten Ton. In der Church of Caro-Liturgie stünden die Schaukeln für die Wiedergeburt. Clara ist froh, dass trotz der kurzen Vorbereitungszeit alles so gut geklappt hat und die Arbeit so gut ankam. „Die Stadt hat uns gefragt, ob sie die Installation eventuell noch einmal haben könnte, vielleicht sogar für denselben Ort.“

Fotos "Church of Caro" und "Die Kabine // So-Ganz-Im-All-Ein-Sein": © Steven M. Schultz

„Ich bin verdammt stolz auf die Studierenden“, betont Anna Brinkschulte. „Alle haben hier in kurzer Zeit wirklich beeindruckendes entwickelt und ein mutiges Konzept präsentiert.“ Auch Professor Ludger Engels zieht eine sehr positive Bilanz: „Alle Vorstellungen waren ausverkauft und die Resonanz hat all unsere Erwartungen übertroffen.“ Für ihn vermittelten die Performances und Installationen der NOMADISCHEN RECHERCHE einen spielerischen Aufbruch. Das Publikum wurde dazu eingeladen, eine neue Form von Beziehung zum Areal und seinen Gebäuden einzugehen.

 

Ludger Engels könnte sich vorstellen, dass bei einer künftigen Nutzung der Fabrik der Laborcharakter des Festivals erhalten bleiben könnte. „Schön wäre, wenn das Areal zu einem ein Ort für die Initiativen der Stadtbevölkerung wird“, überlegt er. Natürlich hätten die beiden Akademien auch Ideen für das Areal, aber inwieweit sie beteiligt sind, müssten die politischen Diskussionen in der nächsten Zeit entscheiden.

 

Auch Anna Brinkschulte sagt, dass sie sehr froh wäre über neue Ausstellungsräumlichkeiten für studentische Arbeiten. Denn da mangele es an der Filmakademie oftmals an Platz. Vor allem wünscht sie sich aber, dass das Areal an die Öffentlichkeit zurückgegeben wird, sei es mit Cafés oder interdisziplinären Treffpunkten von Kultur- und Hochschuleinrichtungen mit der Bevölkerung.

 

Es wird spannend, was aus der alten Caro-Fabrik künftig entstehen wird.

Das Team hinter der Nomadischen Recherche

Projektleitung: Professor Ludger Engels (ADK)
Projektdozentin: Carolin Hochleichter (ADK)
Dozentin Filmakademie: Anna Brinkschulte
Dozent Raum: Thomas Goerge

 

Dramaturgie & Organisation Gesamtablauf: Sarah Charlotte Becker mit Jonas Arndt, Linda Bockmeyer und Tabea Mewis

 

Produktionsleitung: Moni Schumm
Bauten: Django Herbert
Licht: Ingo Jooß & Andreas Michel
Video & Ton: Luis Schöffend

 

Besonderen Dank an:
Claudia Baumgartner, Alexander Mahr, Yannick Petzold, Philipp Obländer & Harald Stojanovic

 

PROJEKTE

 

CHURCH OF CARO
Von und mit: Jonas Arndt, Linda Bockmeyer, Annbritt Faubel, Tabea Mewis, Marius Petrenz, Rahel Stork, Fabienne ten Thije, Justin Leontine Woschni

 

PATH TO CARO
Von: Luzie Kehle Mit Unterstützung von: Paul Auls & Sarah Charlotte Becker

 

DIE KABINE // SO-GANZ-IM-ALL-EIN-SEIN
Von: Paul Auls Mit Unterstützung von: Sarah Charlotte Becker & Luzie Kehle

 

KAFFEEKLANG
Raum & Audio: Sarah Charlotte Becker Video: Kenneth Erharbor Mit Unterstützung von: Paul Auls & Luzie Kehle

 

SCHWEBEPUNKTE
Von: Malte Hartleb, Clara Deitmar & Jannik Jochim

 

EXIT ROOM: INFERNO
Konzept: Linda Bockmeyer, Julius Dorsel, Marius Petrenz, Fariborz Rahnama Rätseldesign: Julius Dorsel Szenenbild: Fariborz Rahnama
Texte: Franz Kafka und Marius Petrenz

 

FACES OF LUDWIGSBURG
Von: Erica Esserman, Jannik Jochim, Marvin Neidhardt & Danilo Cedeño Vaughan

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