Von einem mysteriösen Traum geplagt, beschließt der chasarische König, drei verschiedene religiöse Berater um Hilfe zu bitten. Doch während die Abgesandten nur ihre subjektive Sicht teilen, scheint die Stimme der Chasaren in den weiten Steppen irgendwo zwischen dem heutigen Osteuropa und Zentralasien für immer zu verhallen...
Sofiia Melnyks Diplomfilm THE STEPPES OF KHAZAR erzählt von dem Volk der Chasaren. Noch nie gehört? Das ist der Punkt! Im 9. Jahrhundert eine regelrechte Großmacht, verschwand ihr Name fortan zunehmend aus den Geschichtsbüchern zugunsten ihrer Eroberer. THE STEPPES OF KHAZAR nähert sich der Problematik einer Geschichtsschreibung, in der ausschließlich die Sieger zu Wort kommen.
In folgendem Interview spricht Sofiia über ihren Weg zum Animationsinstitut, sprach- und „schlafliche“ Hindernisse sowie den historischen Kontext rundum THE STEPPES OF KHAZAR. Außerdem gibt sie ihre persönliche Einschätzung zu Parallelen zwischen ihrem Film und den gegenwärtigen Bestrebungen Russlands in der Ukraine.
Ich habe schon als Kind gerne gezeichnet, aber irgendwann ab der 9. oder 10. Klasse habe ich diese Leidenschaft ziemlich vernachlässigt. Vielleicht war ich zu sehr davon eingeschüchtert, dass alles bewertet und in eine Notenskala eingestuft werden musste. Vielleicht habe ich mich dadurch nicht mehr so frei wie zuvor gefühlt und daher die Freude am Zeichnen verloren. Oder vielleicht wollte ich einfach meine Freizeit mit Kumpels und Partys verbringen. Nach meinem Abschluss habe ich dann angefangen Mathe zu studieren, weil mir das in der Schule leichtfiel. Aber schon während des Studiums merkte ich, dass es nicht das ist, was ich mein Leben lang machen möchte.
Und dann habe ich durch Zufall eine Sammlung von Animationsfilmen bekommen. Filme von Paul Driessen, Tomek Baginski, Igor Kovalyov – diese Filme haben eine ganz neue Welt für mich eröffnet. Ich war verliebt! Noch während meines Masterstudiums im Bereich mathematische Statistik habe ich gleichzeitig einen Animations- und einen Malerei- und Zeichenkurs besucht. Ich habe es sogar geschafft, danach einige Jahre in Kyiv als Animatorin an unterschiedlichen Produktionen zu arbeiten. Das waren kommerzielle Kinderserien und Filme, die jedoch nicht wirklich das waren, was ich mir von der Animationswelt erhofft hatte.
Daher habe ich angefangen, nach einer Animationsschule außerhalb der Ukraine zu suchen und bin ziemlich schnell auf das Animationsinstitut gestoßen. Die Projekttrailer und fertigen Filme der Studierenden fand ich richtig spannend. Was mich aber vor allem angesprochen hat, war, dass all diese Projekte so unterschiedlich waren. Das hebt das Animationsinstitut von anderen Kunstschulen hervor, wo Studierende meist dem Stil der jeweiligen Dozierenden nacheifern.
Ganz am Anfang meines Studiums an der Filmakademie war mein Deutsch noch nicht so gut und ich musste mich sehr konzentrieren, um zu verstehen, worum es im Unterricht ging. Mein Hirn war dauernd überfordert. Irgendwann wurde es dann auch mal zu viel und ich bin mitten im Unterricht eingeschlafen.
Milorad Pavić war ein serbischer Schriftsteller, der hauptsächlich für seine Romane im Genre des magischen Realismus bekannt ist. Sein bekanntestes Werk ist „The Dictionary of Khazars“ aus dem Jahr 1984. Wirklich Aufmerksamkeit erzeugte der Roman in den postsowjetischen Staaten aber erst in den frühen 2000ern. Er war der Autor meiner Jugend, alle haben seine Bücher gelesen. Ich war schon immer begeistert von seinem poetisch-mystischem Stil, in dem er historische Ereignisse schildert.
Die Geschichte über die Chasaren, die aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, hat mich fasziniert. Jede der Perspektiven fehlen Aspekte der jeweils anderen Versionen. Gleichzeitig kommt die Stimme der Chasaren bewusst nicht zum Tragen – diese wurde aus der Geschichte entfernt.
Das hat mich an die ukrainische Geschichte erinnert: Die Ukraine wurde schon oft erobert und aufgeteilt, hat zu unterschiedlichen Ländern und Imperien gehört. Alle Eroberer haben versucht, unsere Geschichte so umzuschreiben, dass sie als die Guten dastehen. Jetzt sehen wir es abermals anhand der russischen Propaganda. Einen Unterschied gibt es jedoch zu früher: der breitere Zugang zu Informationen. Es ist schwieriger, die Wahrheit zu verstecken, als in der Zeit der Chasaren.
Die Kultur der Chasaren können wir nur erahnen, es gibt sehr wenige archäologische Überreste und die Ruinen von Itil, der chasarischen Hauptstadt, wurden nie gefunden. Mittlerweile gehört die Region, wo Itil liegen könnte, zu Russland und ist ziemlich vernachlässigt. Das kann und darf nicht mit der ukrainischen Kultur und Geschichte passieren. Jede Kultur hat das Recht, zu existieren und sich zu entwickeln. Der Kolonialismus ist vorbei und die Stimme von früher unterdrückten Völkern muss gehört werden.
Wir sehen, wie Europa sich vereint, wie hilfsbereit Menschen sind, wir sehen, dass die Ukraine nicht aufgibt, sondern kämpft. Das alles ist sehr inspirierend.
Sofiia Melnyk, Alumna Animationsinstitut
Gerade beschäftige ich mich sehr mit ukrainischer Kultur. Ich versuche, neue Maler, Schriftsteller oder Musiker zu entdecken, deren Werke zur Zeit der Sowjetunion verboten wurden. Außerdem nehme ich an unterschiedlichen Veranstaltungen teil, die einen Dialog zwischen ukrainischer Kultur und anderen Ländern Europas schaffen sollen. Zudem organisiere ich das Theater- und Kunstfestival „GogolFest“, um ukrainische Kultur zu vermitteln, über den Krieg zu erzählen und die wahnsinnige Energie, die ukrainische Kunst in sich hat, zu nutzen. Eben jene Energie, die es ermöglicht, dass das ukrainische Volk überlebt und so wild für seine Freiheit kämpft.
Trotz des Krieges bin ich optimistischer als während der Entstehung von THE STEPPES OF KHAZAR. Ich habe Hoffnung, Kraft und großen Willen, meine Heimat wieder mitaufzubauen, nachdem diese ungerechte und grausame Invasion von Russland vorbei ist. Wir sehen, wie Europa sich vereint, wie hilfsbereit Menschen sind, wir sehen, dass die Ukraine nicht aufgibt, sondern kämpft. Das alles ist sehr inspirierend.
Die Zeit am Animationsinstitut war wie ein ganzes Leben nur in klein: viel Lernen, viel Kampf und viel Freude; ich bin sehr dankbar dafür, dass ich hier studieren durfte.