Selten sorgte ein Computerspiel über die Gamingszene hinaus für so viel Aufsehen. Im Frühjahr 2020 stand The Longing in medialem Spotlight. Die Washington Post schrieb, das Spiel sei so kühn, es erweitere durch seine Kreativität die Idee von dem, was Games per se sein können. Der Spiegel titelte zu Beginn des Corona-Lockdowns in Deutschland „400 Tage Isolation. Das Spiel ist wie für die Quarantäne gemacht“.
So etwas wie The Longing gab es noch nie: Ein Spiel, in dem das Warten und Zeit totschlagen im Mittelpunkt steht. Basierend auf der Sage um Kaiser Barbarossa, spielt man einen bemitleidenswerten Diener, der des Kaisers Höhle hütet, für exakt 400 Tage. So lange dauert es tatsächlich, bis das Ende des Spiels erreicht ist. Mit dem Diener können Spielende die Höhle erkunden und sich dabei in Langmut üben. Teilweise dauert das Öffnen von Türen oder neuer Räume wochenlang, für Zeitvertreib sorgt etwa, ein Zimmer mit gesammelten Gegenständen einzurichten oder Bücher zu lesen.
Was sich dröge anhört, macht ungemein Spaß. Mit seiner Entschleunigung trifft das Spiel einen Nerv der Zeit und erreichte bereits kurz nach seiner Veröffentlichung Kultstatus. Weltweit wurde The Longing auf den wichtigsten Festivals der Branche gefeiert und gewann unter anderem den Deutschen Computerspielpreis für das beste Debüt und den Innovationspreis am Zürich Game Festival. Das oftmals zitierte „Indie-Studio“ namens Seufz, das das Spiel entwickelte, war plötzlich in aller Munde.
Das Studio sitzt in einem bescheidenen Büroraum im Stuttgarter Osten, in direkter Nachbarschaft zu anderen Filmproduktionsfirmen wie Studio Film Bilder und Pixomondo. Gegründet haben es Anselm Pyta, Stefan Michel und Benedikt Hummel. Alle drei sind Alumni des Animationsinstituts.
Anselm und Benedikt kennen sich bereits aus der Schule, seit der siebten Klasse machen sie gemeinsam Computerspiele. Anselm studierte schließlich Animation und Benedikt Interaktive Medien. Auf Stefan trafen sie im Studium. Er studierte Animation/Effects Producing und betreute als Produzent sowohl Anselms Abschlussprojekt als auch Benedikts Abschlussprojekt.
„Schon im Studium haben wir drei gemerkt, dass wir in inhaltlichen Fragen gut miteinander funktionieren und es nahe liegt, sich zusammenzutun“, erinnert sich Stefan. Obwohl sie alle bei etablierten Playern der Branche hätten arbeiten können, wagten sie 2017 gleich nach ihrem Studium den Schritt zur Gründung eines eigenen Studios. Vor allem, weil sie so ihre Ideen verwirklichen konnten. „Ich wollte nie irgendwo arbeiten, wo ich den Inhalt nicht mag“, betont Anselm. „Kein Unternehmen der Welt hat mich wirklich gereizt, daher war es quasi alternativlos für mich, etwas Eigenes zu machen.“
Diese kompromisslose Eigenwilligkeit ist das Markenzeichen des Studio Seufz. Der spezielle 2D-Animationstil und die oft abgefahrenen Ideen sind unverkennbar, ein eigener Seufz-Stil sozusagen. „Wir lehnen uns mit unseren Konzepten immer weit aus dem Fenster, weil wir einfach das machen, was wir selbst gut finden“, erklärt Benedikt. Glücklicherweise wüssten das auch manche Kunden zu schätzen.
Das Portfolio des Studios ist bereits lang, auch hinsichtlich von Auftragsarbeiten. Unter anderem konzipierten sie die Tapir Tapes, ironische Edutainment-Clips zum Thema Wiederbelebung, oder setzten für den Mercury Phoenix Trust ein Musikvideo des Freddy Mercury Songs Love Me Like There’s No Tomorrow um. Der Clip hat auf Youtube über 17 Millionen Views.
In diesem Jahr brachten sie neben The Longing auch den von ihnen produzierten Animationsdokumentarkurzfilm Just a Guy heraus. Er thematisiert den in den USA inhaftierten Serienkiller Richard Ramirez, der trotz seiner Taten weltweit eine enorme weibliche Fangemeinde hat. Die aufwendige Dokumentation drehte die Regisseurin Shoko Hara, die ebenfalls eine Filmakademie-Alumna ist. Just a Guy lief bereits auf vielen Festivals und gewann beim Krakauer Filmfestival einen goldenen Drachen.
Für Ende dieses Jahres plant Seufz noch den Release von VR Pigeons, das als eines der wenigen VR-Spiele ohne Controller auskommt und nur durch Kopfbewegungen der VR-Brille gesteuert wird. Das Spiel entwickelte Maestro Pivetta, der auch am Animationsinstitut studierte. „Den haben wir zu uns geholt, weil wir die Idee so orginell fanden“, sagt Anselm. „Das Spiel löst ein Problem der VR-Technik, ist aber zugleich eine Parodie auf diese Technik.“
Das Studium am Animationsinstitut habe die Ausrichtung des Studios geprägt, betonen die drei. Sie empfanden ihre Zeit in Ludwigsburg als Experimentierfeld, in dem sie ohne wirtschaftliche Hürden ihre Konzepte erproben konnten, die sie nun mit ihrem Studio verfolgen. „Das gute am Studium am Animationsinstitut ist, dass man immer dabei unterstützt wird, die eigenen Projektideen umzusetzen“, findet Benedikt. „Und man wird nicht nur handwerklich ausgebildet, sondern auch ermutigt, seinen eigenen künstlerischen Stil zu entwickeln“, fügt Anselm hinzu.
Auch beim Prozess ihrer Studiogründung selbst spielte das Animationsinstitut eine wichtige Rolle. „Am Anfang waren wir nicht in einem luftleeren Raum, sondern wurden vom Institut in die richtige Richtung geschubst“, erinnert sich Producer Stefan. Bereits im Studium bekamen sie Tipps für die Gründung durch Workshops von Alumni, die auch Firmen gründeten. Zudem sei es hilfreich gewesen, Teil des Institutsnetzwerks zu sein. Durch den Alumniverteiler des Instituts hörten sie etwa von ausgeschriebenen Drittmittelprojekten, mit denen sie ihre künstlerischen Projekte finanzieren konnten.
Daneben war das nun so erfolgreiche The Longing der entscheidende Schritt zur Gründung des Studio Seufz. Es entstand zunächst noch am Animationsinstitut. „Ich wollte wahnsinnigerweise für mein Diplom ein Film und ein Game machen“, erinnert sich Anselm. Doch nur der Film sei am Ende zeitlich möglich gewesen, das Spiel verblieb in einem Prototypstatus. Nach seinem Studium war das Animationsinstitut bereit, seine Rechte, die es an dem Spiel wie bei allen am Institut entstandenen Projekte besaß, zu übertragen. „Dadurch konnten wir für die Realisierung von The Longing Fördergeld beantragen“, erinnert sich Stefan. „Das klappte und hat uns schließlich den Firmenstart gesichert.“
Studierenden, die auch mit dem Gedanken spielen, ein eigenes Studio zu gründen, empfehlen sie, sich in Geduld zu üben. „Wir sind jetzt in einem Bereich, in dem wir auch was verdienen, doch das hat drei Jahre gedauert“, gibt Anselm zu bedenken. „Man muss damit rechnen, dass der Payoff für die Arbeit sehr spät kommt. Wir lebten nach dem Studium finanziell erst mal weiter auf Studierendenniveau.“ Dennoch seien sie nun ein Beispiel dafür, dass man nicht verhungern müsse, wenn man Sachen macht, die man selbst gut findet.
In der Tat zahlt sich die Ausdauer und Eigenwilligkeit des Studio Seufz derzeit aus. Gerade bahnt sich eine Zusammenarbeit mit einer Streamingplattform an, dazu könnte aus Just a Guy bald eine ganze Serie entwickelt werden. Die Realisierung eines großen 2D-Spiels namens Lucky Tower 3, das an eine Indie-Spiel-Reihe von Benedikt und Anselm anknüpft, nimmt ebenfalls bereits Gestalt an. Vom Studio Seufz ist jedenfalls künftig noch einiges zu erwarten.